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Aus dem Alltag eines Anwalts: Prozessrisikoanalyse
Vor einigen Tagen wurde ich in nach dem Lesen des Blog-Beitrags eines Kollegen auf das kürzlich erschienene Buch „Prozessrisikoanalyse: Erfolgsaussichten vor Gericht bestimmen“ von Risse / Morawietz aufmerksam. Das Werk befasst sich augenscheinlich damit, die Bezifferung von Prozessrisiken vorzunehmen und damit die Erfolgsaussichten bei Gericht besser vorherbestimmen zu können. Vorweg: ich kenne das Werk nicht und kann dessen Inhalt daher beim besten Willen nicht bewerten.
Beim Lesen des Blog-Beitrags fühlte ich mich allerdings an zahlreiche Mandatsbesprechungen, insbesondere aus dem Bereich von Filesharing-Abmahnungen (sowie hier speziell einer Beratung, die ich eben an jenem Tag geleistet hatte) erinnert: es geht um die häufig gestellte Frage von Mandanten, wie wahrscheinlich ein gerichtliches Verfahren ist.
Konkret ging es in der Beratung um einen an sich völlig normalen Filesharing-Sachverhalt: der Mandant hatte vor rund 3 Jahren eine Abmahnung erhalten und sich sodann von einem Rechtsanwalt beraten lassen. Nach dieser Beratung hatte der Mandant sich entschieden, eine abgeänderte Unterlassungserklärung abzugeben. Die Zahlungsansprüche waren indessen zurückgewesen worden. Der beratende Kollege hatte hierbei den Mandanten – so aus der nun mir zur Prüfung vorgelegten Korrespondenz ersichtlich – mehrfach darauf hingewiesen, dass bei dieser Vorgehensweise durchaus ein Eintritt der (teilweisen) Verjährung nach 3 Jahren möglich sei, ebenso aber das Risiko bestünde, dass die Rechteinhaberin die erhobenen Ansprüche auch gerichtlich geltend machen könnte.
Es kam wie es kommen musste: die Rechteinhaberin entschied sich, nicht einfach nur die Verjährung abzuwarten, sondern sie beantragte einen Mahnbescheid. Infolgedessen nahm der Mandant wieder mit dem Rechtsanwalt Kontakt auf. Aus der Korrespondenz war dabei ein ordentliches Maß an Verwunderung seitens des Mandanten herauszulesen, der a) die Angelegenheit bereits als abgeschlossen betrachtet hatte und b) nicht fassen konnte, dass sich in seiner Angelegenheit der ungünstigere Verlauf ergeben hatte.
Im Ergebnis war festzustellen, dass der Mandant sich von seinem bisherigen Rechtsanwalt nicht gut beraten fühlte, so dass sich der Mandant nun bei uns meldete.
Im Rahmen der Beratung hatte ich dem Mandanten dann allerdings nicht nur mitzuteilen, dass die Beratung durch den vormals beauftragten Rechtsanwalt nicht nur nicht zu beanstanden war, sondern dass dieser den Mandanten ausdrücklich und mehrfach auf diese potentielle Entwicklung hingewiesen hatte. Hierbei kam es zu einem recht interessanten Wortwechsel zwischen mir und dem Mandanten, der das Problem der eingangs erwähnten Frage („Wie wahrscheinlich ist eine Klage?“) offenbart:
Der Mandant äußerte wiederholt, der Kollege hätte ihm erläutert, dass eine Klage in 99% der Fälle ausbleibe. Auf meinen Einwand, dass 99% eben keine 100% bedeuten und ein Restrisiko von 1% beinhalten würden, entgegnete der Mandant lediglich: „Aber Herr Rechtsanwalt […] hat gesagt: in 99% der Fälle passiert nichts!“
Und genau das ist das Problem: es mag zutreffend sein, dass in 99% der Fälle nichts passiert. Aber der Mandant gehörte nicht zu diesen 99%, sondern zu dem verbliebenen 1%. Dass diese Entwicklung eintreten könnte, hatte der Mandant schlicht nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Es ist zwar nachvollziehbar, dass Mandanten zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens ihre Chancen und Risiken abgewogen wissen wollen. Trotzdem sollte diese Abwägung nicht anhand der Prognose, wie wahrscheinlich ein gerichtliches Verfahren ist, getroffen werden. Dies kann man tun, aber nur, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass es sich dann um ein Spiel mit dem Glück und nicht um eine vernünftige Risikoabwägung handelt.
Freilich erläutern auch wir unseren Mandanten, ausgehend von den Erfahrungswerten aus einem guten Jahrzehnt, wie häufig sich gerichtliche Verläufe ergeben haben. Denn dieser Umstand kann bei einer vernünftigen Risikoabwägung zusätzlich, aber eben nicht ausschließlich, berücksichtigt werden.
Im Ergebnis stellen wir nicht primär darauf ab, wie wahrscheinlich die Klage nun im Allgemeinen ist, sondern vielmehr darauf, wie wahrscheinlich es ist, dass der Mandant auch im Falle eines gerichtlichen Verfahrens obsiegen würde. Denn auf nichts anderes kommt es an: selbst wenn von 1000 Fällen nur 1 einziger vor Gericht landet, dann kann das dem Betroffenen egal sein, wenn die Rechtslage zu seinen Gunsten steht.
Um hier nicht den Eindruck zu erwecken, der zunächst tätige Kollege hätte vorliegend irgendeinen Fehler begangen: in rechtlicher Hinsicht war die Beratung durch den Kollegen ebenfalls nicht zu beanstanden, der Mandant befand sich tatsächlich in einer Position, in der er auch einem Klageverfahren gelassen entgegensehen konnte. Aus diesem Grund haben wir dem Mandanten dann auch geraten, sich nochmals mit seinem vorherigen Rechtsanwalt zusammenzusetzen und die Angelegenheit mit diesem einem Ende zuzuführen.